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  • Andrea

Von "besser laufenden Gehirnganglien"...


In den letzten Monaten war in vielen Schweizer Medien von Schulnoten und deren Sinn oder Unsinn zu lesen. Philippe Wampfler, Deutschlehrer an der Kantonsschule Uetikon am See und Dozent für Fachdidaktik Deutsch sowie Autor mehrerer Bücher, u. a. «Eine Schule ohne Noten» (2021), sagte kürzlich dem Blick gegenüber:


Je länger ich als Lehrer arbeite, desto sicherer bin ich, dass die Abschaffung von Noten die Schweizer Schulen mit einem Schlag massiv verbessern würde. [...] Eine Schule ohne Noten ist eine Schule ohne Bewertung. Und eine Schule ohne Bewertung ist eine bessere Schule. [...] Der konsequente Verzicht auf Noten bedeutet auch einen Verzicht auf Selektion. [...] Könnten Schweizer Schülerinnen und Schüler bis zur 9. Klasse ohne Bewertungs- und Selektionsdruck lernen, entstünde eine Schule, die Kinder gern besuchen. Leistungsdruck erzeugt psychische Krankheiten und Mobbing. Hier wäre die Stellschraube, um viele Veränderungen anzustossen. (Zum Artikel)

Auch die Stiftung Mercator Schweiz beschäftigt sich aktiv mit dem Thema und veröffentlicht viele aufschlussreiche Artikel zum Thema, etwa im Mai 2023, wo folgende Erkenntnisse von Bildungsforscher:innen nachzulesen sind:


Erstens tun Noten ausgerechnet das nicht, was sie zu tun vorgeben: individuelle Leistung fair und zuverlässig messen. Stattdessen sind Noten hochgradig anfällig für Fehler, Vorurteile und Verzerrungen.
Zweitens können Noten erfolgreiches Lernen verhindern, weil sie die Eigenmotivation der Schülerinnen und Schüler abwürgen, sie zu Minimalismus und Opportunismus erziehen und vertieftem Nachdenken im Weg stehen.
Drittens sind Noten im Kern nicht mehr zu vereinbaren mit jener individuellen Förderung und Kompetenzorientierung, die der Lehrplan 21 vorsieht und die heutige Entwicklungspsychologie nahelegt. Denn Noten vergleichen ein Kind mit seinen Jahrgangsgenossen, statt seine individuelle Entwicklung zu spiegeln.

Über den Sinn und Unsinn von Schulnoten wird schon seit über hundert Jahre diskutiert und in der Presse berichtet. Ein Brief vom 18. Mai 1896 eines Landschullehrers erschien in der NZZ:


"Ein großer Teil der Lehrerschaft würde die Abschaffung der Schulzeugnisse als eine Erlösung von schwerem Drucke, namentlich auch moralischem Drucke begrüßen. [...] Man verfolgte dabei jedenfalls den Zweck, durch das Schulzeugnis die Eltern zu orientieren, zugleich auch das Kind zu stimulieren. […] Das Zeugnis gibt den Eltern kein zuverlässiges Bild, weil die Beurteilung eine durchaus ungleichartige ist und niemals eine gleichartige werden kann. An verschiedenen Schulanstalten, oft an der nämlichen Anstalt, wird von verschiedenen Lehrern mit ganz verschiedenem Maßstabe gemessen, sowohl das Betragen als der Fleiß und der Fortschritt. [...]

Die Zeugnisse sagen also den Eltern im Grunde nichts, wenn sie dieselben nicht mit andern vergleichen, wenn sie die Schule nie besuchen oder sich bei den Lehrern erkundigen. Darum fort mit den Schulzeugnissen auf jeder Schulstufe, je eher, je lieber."


Auch 1932 lass man in der NZZ: "Ueber den Wert oder Unwert der Schulzeugnisse wird in den letzten Jahren in pädagogischen Kreisen viel diskutiert. Die ganze Problematik der Notengebung wird dabei aufgeworfen. […] Hier nun kann eines nicht genug betont werden: die Noten haben nicht nur den Stand des Fleißes und des Fortschrittes statistisch aufzuzeigen, sondern den Schüler zugleich anzuspornen, seine Kräfte aufs beste entfalten zu helfen. Sie haben eine sehr wesentliche erzieherische Mission. Aber gerade in dieser Hinsicht setzt eine berechtigte Kritik der Notengebung in der Form der üblichen Zahlennoten ein. […] Die Folge wird sein: Depression, Gefühl, ungerecht taxiert zu werden usw. [...]

Für Leben und Beruf wichtigste Eigenschaften, wie z. B. Kameradschaftlichkeit, Gemeinschastsgeist, Ehrlichkeit, Verantwortlichkeitsbewußtsein, Aufrichtigkeit, Selbständigkeit, Initiative, Mut, Phantasie, bleiben größtenteils unberücksichtigt. […] Da kann es passieren, daß ein egoistischer, unkameradschaftlicher, rücksichtsloser Junge mit einem glänzenden Zeugnis nach Hause läuft, nur weil seine Gehirnganglien zur Aufnahme des schulmäßigen Wissens besser eingerichtet sind, wobei jedoch die Frage offen steht, ob neben der Fähigkeit bezüglich der Aufnahme des Schulwissens die viel wichtigere Fähigkeit zu selbständigem, originellem Denken vorhanden ist oder nicht. Das Leben hat schon bei manchem Menschen die Noten des Lehrers gründlich abgeändert.“


NZN_19370216
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zum ganzen Artikel in der NZZ vom 16. Februar 1932




Auch 20 Jahre später schreibt man bereits vom Zeugnis als "Reliquie aus dem vorigen Jahrhundert" und 1986 titelt das "wir Brückenbauer", das Wochenblatt des sozialen Kapitals – Organ des Migros-Genossenschafts-Bundes,

Bald Zeugnisse ohne Noten? Von einem «Glaubenskrieg», der unter Lehrern um die Notenzeugnisse entbrannt ist, sprechen Erziehungswissenschafter. Viele Lehrer verteidigen die Noten als Ansporn für den Schüler oder als Auswahlinstrument, andere Pädagogen hingegen möchten die Leistungen ihrer Schüler nicht nur in Zahlen fassen. Sie wünschen sich eine ganzheitlichere Beurteilung, eine, die den Schüler als Persönlichkeit ernst nimmt, eine, die auch soziales Verhalten und Kreativität berücksichtigt.

Vieles hat sich in den letzten 150 Jahre geändert. Einige Dinge aber scheinen fest eingefahren und sind offensichtlich schwer zu ändern. Nun drehen sich dadurch die Diskussionen auch im Kreis. Die Argumente gegen Noten sind 150 Jahre alt: wohl auf beiden Seiten. Es scheint sinnvoll, sich mit der Geschichte zu beschäftigen, um daraus für heute und die Zukunft zu lernen. Auch im Bereich der Notengebung.





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