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Daniel Deplazes, Gewinner des Tintenfasspreises 2021




Der Film The Blackboard Jungle aus dem Jahr 1955 erzählt die Geschichte eines Lehrers, der

mit dem Unterricht einer disziplinarisch verwahrlosten Klasse betraut wird. Die pädagogischen Grenzerfahrungen, die der Erzieher in gewohnter Hollywood-Manier erlebt – Gewalt, Drogen, der Versuch eines Schülers, eine Lehrerin zu vergewaltigen –, werden erst dann überwunden, als der Pädagoge beginnt, den Unterricht mit technischen Apparaten zu bereichern. Dank des Einsatzes von Tonbandgerät und Filmprojektor gelingt es dem Lehrer erstmals, die renitenten Schüler zu Diskussionen über Lernstoffe zu animieren. Bei Erfolgen – und nicht nur bei pädagogischen – sind klassischerweise kritische Stimmen meist unverhofft schnell zur Stelle. In diesem Fall bezweifelt einer seiner Lehrerkollegen, dass mit Filmen bedeutsames Wissen vermittelt werden könnte. Auf die Frage, ob nun “visual education” die Antwort sei, um zu den Jungen durchzudringen, meint der noch aufgrund seines Erfolgs euphorische Lehrer: “Yeah, partly. If you just get them stimulated!”1

Dass Technologie gerade 1955 in einem Spielfilm als erfolgsversprechende Unterrichtshilfe

porträtiert wurde, ist kein Zufall. In den 1950er Jahren hatte die Frage der technologischen

Hilfsmittel für den Schulunterricht in den USA Konjunktur. So wurde 1953 das erste nationale

Bildungsfernsehen eingerichtet, in dessen Sendungen wissenschaftliche Experten auftraten, um primär Naturwissenschaften für Schulen zu vermitteln.2 Die Bemühungen um die

Qualitätssteigerung des Wissens von Kindern und Jugendlichen in US-Schulen war spätestens nach dem ‘Sputnik-Schock’ (1957) – als Förderung des zukünftigen wissenschaftlichen Nachwuchses im Kalten Krieg – nicht zuletzt militärisch motiviert.3 Die Erfindung und Implementierung weiterer Apparaturen wie Sprachlabore, Videogeräte, Hellraumprojektoren sowie sogenannte Lernmaschinen beflügelten eine internationale pädagogische Debatte um die Effizienzsteigerung des Unterrichts dank Technologie, die sich auch in der Schweiz ab den 1960er Jahren zunehmend beobachten lässt.4



Zum ganzen Text:

Tintenfass 2021-Deplazes
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1 The Blackboard Jungle, Regie: Richard Brooks. Beverly Hills: Metro-Goldwyn-Mayer, 1955.

2 Ludy T. Benjamin, “A History of Teaching Machines”, American Psychologist 43, Nr. 9 (1988): 708; Anne Rohstock, “Antikörper zur Atombombe. Verwissenschaftlichung und Programmierung des Klassenzimmers im Kalten Krieg”, in Den Kalten Krieg neu entdecken. Beiträge zur sozialen Ideengeschichte, hrsg. von Patrick Bernhard und Holger Nehring

(Essen: Klartext, 2014), 266–67.

3 Daniel Tröhler, “The technocratic momentum after 1945, the development of teaching machines, and sobering results”, Journal of Educational Media, Memory, and Society 5, Nr. 2 (2013): 1–19. Der Zweite Weltkrieg – besonders die ‘Effektivität’ der Atombombe – war bedeutsam für zahlreiche Schulreformen der Nachkriegszeit in den USA, die

sich später auf andere Länder auswirkten. Ein Machbarkeitsglaube, geprägt von Rationalität, klaren Strukturen, einer Priorisierung naturwissenschaftlicher Wissenschaft und nicht zuletzt der technologische Fortschritt beflügelte die damaligen Bildungsreformen (Rohstock, “Antikörper zur Atombombe”).

4 Anne Bosche und Michael Geiss, “Das Sprachlabor – Steuerung und Sabotage eines Unterrichtsmittels im Kanton Zürich, 1963-1976”, Jahrbuch für historische Bildungsforschung 16 (2010): 119–39; Andreas Hoffmann-Ocon und Rebekka Horlacher, “Technologie als Bedrohung oder Gewinn? Das Beispiel des programmierten Unterrichts”, Jahrbuch für

historische Bildungsforschung 20 (2015): 153–75; Daniel Deplazes, “‘Balance of mind [...] seems more necessary than the promotion of teaching machines’ – Technology in Swiss Schools in the 1960s”, Bildungsgeschichte. International Journal for the Historiography of Education 10, Nr. 1 (2020): 42–63.


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aus: smbulletin 1/2021

https://www.schulmuseumbern.ch/product-page/smbulletin-1-2021-das-magazin-des-schulmuseums-bern

Jitz rede-n-ig” heisst die aktuelle Ausstellung im Schulmuseum Bern. Aber was bedeutet es, wenn ich rede? Kann ich reden, ohne dass mir jemand zuhört? Muss mein Gegenüber schweigen, wenn ich rede? Wie mache ich mich bemerkbar, sichtbar, wenn ich reden will?


Wir fokussieren in dieser Ausstellung auf die Kommunikation im Klassenzimmer. Kommunikation hat mit Senden und Empfangen zu tun. Wenn jemand redet, gibt es andere, die zuhören müssen oder dürfen. Im Gegensatz zum Reden herrscht im Schulzimmer manchmal auch Schweigen.

Weil das Klassenzimmer und die Institution Schule spezielle Orte sind mit eigenen Regeln und Normen, mit bestimmten Einrichtungen und eingeübten Verhaltensweisen und mit einer eigenen “Grammatik des Lehrens und Lernens”, gibt es zahlreiche Objekte, Archivalien, Papiere und Zeitzeugenberichte, die illustrieren und belegen, wie sich der Kommunikations- und Unterrichtsstil, die Schulzimmereinrichtung und der Redeanteil von Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern über die Zeit gewandelt hat. In der Regel bestimmt die Lehrperson die Redeanteile, die Art der Kommunikation im Klassenzimmer und den Anteil an Teilhabe der Lernenden am Unterricht. Dieses “Machtgefälle” im Schulzimmer zwischen Lehrperson und Schüler/in und die mannigfaltigen Voraussetzungen bzw. Hindernisse, an der Kommunikation teilnehmen zu können oder zu wollen, sollen thematisiert werden. Die Ausstellung illustriert, welchen Anteil das Lernziel “Kommunikationskompetenz” im Lehrplan 21 einnimmt und welche Rolle Teilhabe und Partizipation in der Schule der Zukunft spielen könnten.


Demokratie an der Schule

Mitbestimmungsformen an den Schulen blicken bereits auf eine lange Geschichte zurück. Vertreter der Reformpädagogik um 1900 versuchten Schülerinnen und Schüler stärker in die Gestaltung von Unterricht und Schule einzubeziehen. Die neuen Ideen stiessen allerdings auf grosse Widerstände und setzten sich in den öffentlichen Schulen kaum durch. Eine neue Welle kam in den 70er-Jahren. Klassenräte, Schulversammlungen, Elternmitbestimmung waren die Stichworte der Zeit. Viele auch heute noch in der einen oder anderen Form praktizierte Formen der Partizipation an Schulen wurden damals erprobt.


Pioniere des „freien Arbeitens“

Aufgrund eines Lungenleidens war Célestin Freinet (1896 - 1966) nicht in der Lage, länger vor einer Klasse zu sprechen. Er war daher gezwungen, einen Unterrichtstil zu pflegen, der ihn entlastete und seine Schülerinnen und Schüler zu selbsttätigem Lernen und Arbeiten ermunterte. Auch seine Frau Élise Freinet (1898 - 1983) hielt es für wichtig, die Kinder ihren eigenen Interessen und Fähigkeiten gemäss arbeiten zu lassen. Möglichst praktisch und naturnah sollten die Schülerinnen und Schüler lernen. Zu den Einrichtungen ihrer École Moderne im südfranzösischen Vence gehörten ein Schulgarten, ein Kleintiergehege, eine Arbeitsbücherei, eine Wandzeitung und eine Schuldruckerei. Die Freinets wollten Schülerinnen und Schüler zu selbstdenkenden, kritischen Bürgerinnen und Bürgern erziehen. Ein wichtiges Element ihrer Pädagogik bildete daher auch der Klassenrat.


Mehr Mitbestimmung

Die 68er-Bewegung brachte viele tradierte Muster ins Wanken. Ein zentrales Anliegen der weltweiten Protest- und Reformbewegung war mehr Mitbestimmung. Dies wirkte sich auch auf die Schullandschaft aus. In den 70er-Jahren schossen Initiativen für eine neue Pädagogik und Modellschulen (meistens in freier Trägerschaft) wie Pilze aus dem Boden. Lehrpersonen und Schulen experimentierten mit demokratischen Ansätzen. Dafür bekannt wurden in Deutschland die Freien Schulen (ein der ersten: die Glocksee-Schule in Hannover), in der Schweiz die Freien Volksschulen. In den Freien Volksschulen (Zürich Trichtenhausen, Freie Volksschulen Bern und Basel) wurde ab 1971 die Schülermitverantwortung praktiziert. Es gab Klassenräte, Schulvollversammlungen, Elternräte und Elternvollversammlungen, wo alle Beteiligten, die ihre Schule betreffenden Fragen erörterten.


„Den Kindern das Wort geben!“: Die demokratische Schule von Célestin und Elise Freinet in Südfrankreich

Wer war Freinet? Worin bestand seine pädagogische Leistung? Was hat es mit einer Pädagogik auf sich, die „von Anfang an zwischen zwei Stühlen sitzt“1, weil sie einerseits als Entwurf einer Schule des Proletariats gelten kann und anderseits „als neutrales Ensemble von Techniken“2 darstellbar ist?3 Weshalb wird Freinets pädagogischer Ansatz als didaktisch-methodisches Instrumentarium rezipiert und darum bar jeglicher politischen Implikation im Unterricht umgesetzt? Weshalb wird Elise Freinets Beitrag zur ‘Freinet-Pädagogik’ kaum gewürdigt?


Weil beide – in unterschiedlicher Art – den Kindern ‘das Wort geben’ wollten, sind die Freinets für mich ‘pädagogische Klassiker’.

Célestin Freinet, als fünftes von acht Kindern einer Bauernfamilie am 15.10.1896 - im selben Jahr wie Jean Piaget - in Gars (Südfrankreich) geboren, besucht zwischen seinem fünften und dreizehnten Lebensjahr die Dorfschule. 1912 erhält er sein Brevet primaire und bezieht 1913 zur weiterführenden Ausbildung das Lehrerseminar in Nizza. Der Kriegsausbruch unterbricht jäh seine Jugend: 1915, nach einer kurzen Vertretung, wird Freinet als Achtzehneinhalbjähriger eingezogen, am 23.10.1917 schwer verwundet und aus der Armee entlassen. Zu 70% invalidgeschrieben sucht der junge Lehrer nach jahrelanger Rekonvaleszenzzeit nach einer neuen Pädagogik, als er 1920 als ‘instituteur adjoint’ im südfranzösischen Dorf Bar-sur-Loup eine Klasse übernimmt. Auf einer Reise nach Deutschland und in die Schweiz informiert sich Freinet über neuere Erkenntnisse der pädagogischen Forschung. Anlässlich seines Besuchs in Genf mag der Franzose aus Ferrières kurz zuvor erschienenem Buch4 erfahren haben, zur Selbstbetätigung des Schülers gehöre eine Druckerei. In Bar-sur-Loup fällt ihm die Kluft zwischen seiner Art des Unterrichtens, welche die Umgebung der Kinder einbezieht, und dem anschliessenden herkömmlichen Verarbeitungsprozess mithilfe der traditionellen Lehrmittel auf. Darum lässt er 1924 seine Schülerinnen und Schüler zum ersten Mal eigene Texte drucken. Weil ihn sein Lungenleiden zeitlebens behindern wird – Freinet ist nicht in der Lage, länger vor einer Klasse zu sprechen –, ist er gezwungen, einen Unterrichtstil zu pflegen, der ihn entlastet und seine Schüler zu selbsttätigem Lernen und Arbeiten ermuntert. 1925 fährt Freinet als Mitglied einer Gewerkschaftsdelegation nach Russland. Dort hat er es sich nicht nehmen lassen, ein Kinderkollektiv auf eigene Faust zu besuchen. Von dieser Reise existiert eine Reportage aus der Feder Freinets, die kaum bekannt geworden ist. Nachdem er auf seiner Deutschlandreise die Hamburger Lebensgemeinschaftsschulen kennengelernt hatte, nimmt Freinet 1928 am Internationalen Pädagogischen Kongress in Leipzig teil. Für den Franzosen sind schliesslich jene Schulversuche pädagogisch wegweisend, deren Initianten er auf seinen Studienreisen durch Europa persönlich kennenlernt. Zu ihnen zählen neben Ovide Decroly, Adolphe Ferrière, Paul Geheeb und Peter Petersen auch Fritz Gansberg und Heinrich Scharrelmann, welche die Entfaltung der schöpferischen Kräfte des Kindes im Unterricht fördern wollen und die Bedeutung des freien Aufsatzes hervorheben.


Elise Lagier-Bruno wird am 14.8. 1898 in Pelvoux in den Alpes-Maritimes geboren5. Sie ist das dritte von sechs Kindern. Sowohl ihre Mutter Julie als auch ihr Vater Claude sind Dorfschullehrer, wie es auch der Grossvater mütterlicherseits bereits gewesen war. Ihr Vater ist über- zeugter Atheist, eine Position, die er seinen Kindern bewusst vermittelt.

Elise, auch Zizi genannt, verlebt, wie ihre Tochter Madeleine später schreiben wird, eine glückliche Kindheit. Sie ist ein frühreifes Kind: bereits mit neun Monaten kann sie gehen, als Vierjährige lesen. 1916 wird ihr älterer Bruder Fernand zum Militärdienst eingezogen. Während eines Heimaturlaubs äussert er seiner Familie gegenüber seine pazifistische Einstellung. Die achtzehnjährige, politisch sehr interessierte, Elise stimmt ihm zu. Dies verärgert ihren Vater, den überzeugten Patrioten, der seine Kinder von klein auf nationalistische Gedichte und Lieder auswendig lernen lässt.

Elise besucht die ’Ecole Supérieure’ in Briançon, darauf die ’Ecole Normale’ in Gap. Sie ist eine gute Schülerin, musisch sehr begabt, spielt Klavier und kann vor allem sehr gut malen. Am 3.11.1919 erhält sie das ‚Certificat d’aptitude professionelle’, das Abschlusszeugnis. Sie wird Dorfschullehrerin.

Nachdem sie in mehreren Dörfern im Lauret-Tal gearbeitet hat, kommt sie nach Vars. Dort hatten die Lagier-Brunos von 1902 bis 1905 gelebt. Ihr Vater hatte damals jene Stelle inne, die Elise nun als Dorfschullehrerin ausfüllt. Damals hatte sich die Familie infolge ihrer atheistischen Einstellung kaum Freunde gemacht – man zog nach Saint-Martin-de-Queyrières um. Nun bekommt auch Elise die Anfeindungen der Bewohner von Vars zu spüren: Eines Tages liegt Hundekot vor der Tür ihrer Wohnung. Dies veranlasst Elise Lagier-Bruno, Vars zu verlassen. Von 1922 bis 1925 sollte sie in Sainte-Marguérite arbeiten.

Obwohl immer schon politisch interessiert, legt sich die junge Lehrerin erst 1922 politisch wirklich fest. In einem Brief an ihre in Paris lebende Schwester Madeleine, genannt Mad, schreibt sie, sie habe sich nun für die extreme Linke entschieden. Gleichzeitig fordert sie sie auf, in Paris politische Veranstaltungen der Linken zu besuchen und davon zu berichten. Als Lenin am 21.1.1924 stirbt, bricht Elise in Tränen aus.

Im Mai gewinnt Elise Lagier-Bruno den zweiten Preis eines Zeichenwettbewerbs der Zeitschrift ‚ABC’, die sie abonniert hat. Sie fertigt auch Zeichnungen für die Zeitschrift ‚Petits Bonshommes’ an, die ihr späterer Mann, Célestin Freinet, damals liest. In einem Brief an ihren jüngeren Bruder Lucien schreibt sie: “Je veux donner à l’art une place importante. Je ne sais qui l’a comparé á la prière et cela est si juste!“6


Der für ihre Region zuständige ‚Inspecteur primaire’ ermutigt sie damals, sich weiterhin der Kunst zu widmen. Sie bittet um eine drei- monatige Beurlaubung, um in Paris Kunst studieren zu können. Am 19.8.1925 allerdings ereignet sich etwas Unerwartetes: In der Wartehalle des Bahnhofs von Grenoble lernt Elise Lagier-Bruno Célestin Freinet kennen. Sie verliebt sich in ihn. Sie kommt von einem Besuch bei ihrem Bruder Lucien, der als Ingenieur in Savoyen lebt. Er ist auf dem Weg nach Paris zum ‚Congrès de l’ Internationale des Travailleurs de l’ Enseignement’.

Am 22.8.1925, also drei Tage nach ihrem ersten Treffen, schickt sie ihm drei Federzeichnungen von ihrer ersten Begegnung. Auf einer der Zeichnungen ist sie selbst abgebildet, wie sie – ihren Kopf auf seine Knie gelegt – schläft. Bis sie sich im Dezember wiedersehen sollten, stehen die beiden in engem Briefkontakt. Ihrer Schwester Mad schreibt Elise Ende Oktober 1925, dass es „mon Freinet“7, den sie auch später immer ‚Freinet’ und nicht ‚Célestin’ nennt, nicht gefällt, sie in Paris zu wissen. Sie gesteht, es sei sein Recht, ein wenig eifersüchtig zu sein, da sie sich oft im Künstlermilieu aufhalte.8


Elise schreibt ausserdem, sie habe sich nicht leidenschaftlich in Freinet verliebt, sondern liebe ihn, weil er ihre Ideen teile und sie verstehe.

Diese Art der Zuneigung scheint ihr lieber zu sein als Verliebtheit.

Als sich die Verlobten über Weihnachten 1925 in Lyon treffen, schickt Freinet den Eltern Lagier-Bruno einen Brief, in dem er sich vorstellt und um ihrer Tochter Hand anhält. Auf die Rückseite dieses Briefes bekräftigt Elise, sie sei sicher, mit ‚ihrem Freinet’ glücklich zu werden, so glücklich, wie das Leben es zulassen werde.

Am 6.3.1926 heiraten Elise Lagier-Bruno und Célestin Freinet in Saint-Martin-de-Queyrières. Sie hatten sich zuvor drei Mal gesehen.

Florenz ist das Ziel ihrer Hochzeitsreise, die eher eine Kunstreise gewesen ist.

Dann ziehen die beiden in das südfranzösische Städtchen Bar-sur-Loup, wo Freinet als Lehrer tätig ist.


Zu jener Zeit trägt Freinets Konzeption einer Ecole moderne française einen libertär-pädagogischen Klang9. Die erste Presse Freinets, die 1926 von einem Handwerker in Holz gearbeitet worden ist, vermittelt einen Eindruck, wie unbeholfen anfänglich die Druckversuche ausgefallen sein müssen. Die pädagogisch interessierten Zeitgenossen beeindruckt der von Freinet im Unterricht verwendete Filmprojektor (Pathé Baby) und die dazugehörenden kleinen 9,5 mm-Filmrollen. Die neuartigen Unterrichtsmedien erlauben es Freinet, neben der bald aufgebauten Klassenkorrespondenz (Schülertexte und selbsterarbeitete Lehrmittel) mit einer Klasse aus dem bretonischen Trégunc auch Filme auszutauschen10. 1928, nach seiner Versetzung an die Dorfschule von St.Paul, initiiert Freinet in den Bauerndörfern landwirtschaftliche und handwerkliche Kooperativen. Dort entbrennt inzwischen – wie bereits an seinem früheren Wirkungsort – eine Kampagne gegen Freinet. Aus heutiger Sicht ähnelt die Verunglimpfung Freinets einer kleinkarierten Komödie: Freinet, zwischen 1929 und 1948 Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs, wird vorgehalten, er bolschewisiere (bolchévisation) die Kinder. 1932 besichtigen Kongressteilnehmer der Ligue Internationale de l’Education Nouvelle (Nizza) die miserablen Zustände in Freinets Schule in St. Paul. Die Affäre von St. Paul endet mit Freinets Suspension als Lehrer ‘im Interesse der Öffentlichkeit’. Freinet: „Ich wurde aus der Klasse geworfen durch eine vom Bürgermeister organisierte und geführte Manifestation.“ Als Kriegsversehrter vorzeitig pensioniert, startet Freinet nach seiner Entlassung den Aufbau seiner eigenen Schule, der Ecole Freinet, einem Landerziehungsheim, in Vence. Das Landerziehungsheim der Freinets wird zu einem Fluchtort für Kinder aus dem spanischen Bürgerkrieg. Während der Kriegsjahre wird Freinet mehrmals interniert, aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit jedoch vorzeitig entlassen. Bis Kriegsende arbeitet er in der regionalen Résistance. 1947 eröffnet er sein Landerziehungsheim wieder. 1948 war der Spielfilm L’Ecole Buissonnière11 gemäss einem Drehbuch von Elise Freinet an den Originalschauplätzen aufgenommen worden. Er zeigt zeitlich gerafft das Leben Freinets von 1920 bis 1933. Obwohl es der Streifen mit der historischen Realität nicht so genau nimmt, dokumentiert er doch einige Aspekte von Freinets pädagogischer Tätigkeit, die nicht zuletzt im Ausbau der Ecole moderne besteht.

Die Freinet-Schule ist in ihrem Selbstverständnis Arbeitsschule12 – zumal Freinet selber dem Frontalunterricht vorhält, er sei zuwenig effizient und schläfere die Schüler ein, um sie später trickreich wieder aufzuwecken: Als Freinets wichtigste Unterrichtselemente gelten Selbstverwaltung und Selbsttätigkeit, Kooperation, freier Ausdruck und entdeckendes Lernen. Freinet-Unterricht appelliert an die Eigeninitiative des Kindes: Weil schulische Inhalte nicht lehrerzentriert vermittelt werden, weil der Unterricht weitgehend von den Erfahrungen der Kinder ausgeht13 und weil die Schüler selber entscheiden, welchen Wissensbereichen sie sich zuwenden wollen, stellen sie Fragen, forschen und experimentieren. Freinet leitet die Kinder konsequent an, das Lernen zu lernen, wobei das tâtonnement expérimental, der tastende Versuch, im Erkundungsprozess eine wichtige Rolle spielt. Unterrichtliche Arbeitsabläufe werden kooperativ geplant. Gestützt vom Arbeitsplan muss das Kind trotz äusserer Hilfe ein gewisses Mass an Selbstdisziplin aufbringen:

„Die Erfahrung hat uns gezeigt, dass wir dann eine fast ideale Harmonie erreichen, wenn eine Klasse gut strukturiert ist und die Kinder alle, individuell oder in der Gruppe, eine interessante Arbeit im Rahmen des Klassenlebens vorfinden.“14

Unordnung tritt nur auf, wenn Mängel in der Arbeitsorganisation auftreten oder wenn die Arbeit das Kind nicht festhält. Über den freien Ausdruck und eine seiner Sonderformen, den freien Text, ist das Kind in einer Freinet-Klasse angesprochen, seine Gedanken zu Papier zu bringen. Neben dem Zeichnen, Malen, den Ausschneidearbeiten, den Linolschnitten, dem Theater-, Kasper- und Marionettenspiel, dem Gesang und den rhythmischen Übungen, heisst es auch bezüglich des freien Ausdrucks bei Elise und Célestin Freinet, dass Alltag ganzheitlich und über alle Sinne aufgenommen werde. An Neues soll sich das Kind versuchsweise herantasten, es soll entdeckend lernen und handeln, indem es etwas ausprobiert. Dafür muss der Klassenraum dergestalt eingerichtet sein, dass für die Kinder die Chance überhaupt gegeben ist, selbsttätig Untersuchungen anzustellen und zu beobachten.


Als Partnerin Freinets bei der Ausarbeitung neuer Ideen, steuert Elise eigene Ideen bei: Sie bildet, so Paul LeBohec, ein enger Mitarbeiter und Freund der beiden, Freinets Gegenpart. “Sie war eine Künstlerin. Freinet war pragmatischer, und weil die beiden so gegensätzlich waren, konnte diese Gemeinschaft existieren. Die beiden hatten eine dialogische Beziehung, sie ergänzten sich, sie standen aber auch in Opposition. Und weil es diese Aspekte gab, wuchs die Freinet-Pädagogik weiter, komplementär und kontradiktionär.“15 Für Elise Freinet liegt das Ziel darin, den ’freien und kreativen Ausdruck’, Aspekte der Kunst der Musik und des Theaters, in die Freinet-Pädagogik einfliessen zu lassen. Dazu Paul LeBohec: “Elise hat innerhalb der Freinet-Bewegung die Bedeutung des ’freien Ausdrucks’ und der Kunst und der Ästhetik betont - und auch verteidigt. Dass wir in dieser Richtung weitergekommen sind, haben wir Elise zu verdanken.“16


1 Lepape 1979, S. 41.

2 ebd., S. 41.

3 Kock 1995, Kock 1996.

4 Ferrière 1922, S. 260 ff.

5 vgl. Grunder, de la Roi-Frey 2005.

6 Freinet, M., Elise et Célestin Freinet: Souvenir de notre vie; Editions Stock, Paris, 1997, S. 98: Ich will der Kunst einen wichtigen Platz geben. Irgendwer hat sie sie mit dem Gebet verglichen, und das ist ein so treffender Vergleich!

7 ebd. S. 114.

8 Zu diesem Zeitpunkt sind Elise und Freinet bereits verlobt.

9 Grunder 2007.

10 1926 war Elise Lagier-Bruno als Unterstufenlehrerin nach Bar-sur-Loup gekommen.

11 Schule der Nichtsnutze; von Jean Paul Le Chanois mit Bernard Blier.

12 Freinet 1946.

13 Freinet 1948 ff.

14 ebd., S. 40.

15 Hering, J., Hövel, W., Immer noch der Zeit voraus, Interview mit P. LeBohec, Pädagogische Kooperative e.V., Bremen 1985.

16 ebd.





Literatur

Ferrière, A., L’école active (dt.: Tatschule, Weimar 1928), Paris 1922

Stuttgart 1981.

Freinet, M., Elise et Célestin Freinet - Souvenirs de notre vie, Paris 1997.

Grunder, H. U., Anarchistische Erziehung als libertäre Reformpädagogik, Baltmannsweiler 2007.

Grunder, H.U., de la Roi-Frey, K. (Hrsg.), Reformfrauen in der Schule, Baltmannsweiler 2005.

Kock, R., Die Reform der laizistischen Schule bei Célestin Freinet. Eine Methode befreiender Volksbildung, Frankfurt am Main 1995.

Kock, R. (Hrsg.), Befreiende Volksbildung. Frühe Texte, Bad Heilbrunn 1996.

Lepape, M.-C., Die Revolution auf einem anderen Feld vorantreiben, in: päd.extra, Heft10/1979, S. 41-43.




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Nirgends in der Schweiz gibt es mehr Objekte zur Schulgeschichte – 80'000 Zeugen der Vergangenheit liegen in der Sammlung des Schulmuseums Bern. Doch nicht nur der Blick zurück ist hier wichtig, sondern auch die Beschäftigung mit dem aktuellen Bildungsgeschehen und der Schule der Zukunft.



Idyllisch gelegen im Schloss Köniz ist das Schulmuseum Bern. Ein Ort, der Besucherinnen und Besucher in der Schule von gestern, heute und übermorgen willkommen heisst. Im historischen Schulzimmer erinnert bereits der Duft an damals. Wandtafel, Schulwandbilder und das Harmonium lassen Erwachsene weiter ‚abtauchen’. Kinder fragen ihre Begleiter neugierig, wozu die Schiefertafel und der Griffel da sind und probieren sie aus. Nicht selten lässt ihnen das Geräusch die Haare zu Berge stehen. Über 250 Schulklassen pro Jahr besuchen das historische Schulzimmer und erleben hier eine Unterrichtslektion, wie sie früher war. Die Schülerinnen sind mit Schürzen und die Schüler mit Ärmelschonern bekleidet und eine Lehrgotte oder ein Schulmeister begleitet die Kinder im Erleben dieser fremden und so spannenden Welt.


«Sie, Herr Lehrer?» – «Fragen über Fragen. Fragen fragen darf man immer.»

Eine Etage darüber befindet sich der Ausstellungsraum, wo jährlich wechselnde Ausstellungen zur Schule von heute und übermorgen präsentiert werden. Derzeit ist «Jitz rede-n-ig» zu sehen. Wer kommuniziert wie im Klassenzimmer? An drei inszenierten Inseln dreht sich alles um die Kernthemen REDEN, SCHWEIGEN, ZUHÖREN. Mehrere Generationen berichten darüber, was es für sie heisst und hiess, in der Schule reden zu dürfen, reden zu müssen und reden zu wollen. Ihre Geschichten werden in allen, die aus dem Volksschulalter herausgewachsen sind, persönliche Erinnerungen wecken … Die drei Themeninseln dienen zugleich als Versammlungsplätze, wo in Kleingruppen über das Verhältnis von Demokratie und Kommunikation diskutiert und das Debattierhandwerk unter die Lupe genommen wird. Und natürlich folgt auf die Theorie die Praxis: Die Inseln werden zur Bühne für Debattierübungen.

Überaus kreativ wurde die Ausstellung eröffnet: Der Musiker TomTell schrieb eigens hierfür den Song «Fragen darf Mensch immer», in welchem bewusst überspitzte Fragen gestellt werden, die sich um Homeschooling, die Zukunft der Schule und unser gesellschaftliches Zusammenleben drehen. «Wie weimer zäme rede? Wie weimer zäme läbe? Mitenand oder jede gäge jede? Weimer schleglä? Weimer häbe?»


«Mit Schnaps und Ranzen»

Dass das Schulmuseum Bern mit dem Gestern gerne sinnlich und spielerisch umgeht, zeigt auch sein neustes Angebot «Mit Schnaps und Ranzen … unterwegs im Sammlungslabyrinth des smb». Diese Tour ist ein Happening. Jeder Rundgang führt in die Vergangenheit und in den Untergrund, aber keine Tour ist gleich wie die andere. Die Guides enthüllen Geheimnisse und erzählen Geschichten zur Schulgeschichte. Es wird von Objekt zu Objekt gezappt, inmitten von rund 80’000 Zeugen der Vergangenheit. Bestimmt werden auch Sie dabei auf Sammlungsgegenstände stossen, die Sie in Ihren eigenen Schulerinnerungen schwelgen lassen.



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