Tintenfasspreis 2024
Prof. em. Dr. Hans-Ulrich Grunder
Laudatio über den Text
Vom Gericht ins Heim
Mikrologische Fallrekonstruktion eines strafrechtlich fremdplatzierten Knaben, 1940er-Jahre
von Nives Haymoz
Liebe Preisträgerin, sehr geehrte Damen und Herren
Worum geht es in diesem Text?
Frau Haymoz schildert den Weg des 1942 «strafrechtlich fremdplatzierten Knaben» Anton durch die Institutionen, das heisst, seinen schweren Weg «vom Gericht ins Heim». Ihren Text charakterisiert Frau Haymoz als eine - der mikrogeschichtlichen Methode verpflichtete - Fallrekonstruktion. Diese basiert auf Aktenanalysen im Archiv Albisbrunns. Sie fokussiert allerdings nicht auf die ‹Institution Heim›, sondern auf das Kind und den Jugendlichen Anton.
Mit meinen Jurykolleginnen und -kollegen habe ich den Text gelesen als Dokumentation einer Zeit, als Berichte, Abklärungen und Gutachten über ein Kind zu weitgehend unver-rückbaren Urteilen über dessen Anlagen, sein Benehmen, seine Zukunftsoptionen, also sein gesamtes junges Leben geführt haben. Die wirklich gut lesbare Skizze ist bildungsge-schichtlich fundiert, sorgfältig aufgebaut und klagt nicht an. Die Lektüre entliess mich reicher an Kenntnissen… und ich fand mich nach dem Lesen ergriffen, ja auch wütend.
Nives Haymoz hat das Thema in einem Beitrag für ein Buch ausgeleuchtet. Detailliert er-kundet sie die Mikrogeschichte Antons auf dem Weg ins Heim. Ihren Text hat sie bei Tin-tenfass, dem Schweizerischen Preis für Bildungsgeschichte, eingereicht.
Heute vergeben wir den Preis für 2024. Nach 2020, 2021 und 2022 ist es das vierte Mal. Die Ausschreibung für Tintenfass 2025 läuft bis Ende August 2025.
v.l.n.r.
Nives Haymoz, Preisträgerin
Prof. em. Dr. phil. I Hans-Ulrich Grunder,
Stiftungsrat Schulmuseum Bern, Co-Ressort Forschung
Zum Text.
Heimeinweisung
1924, knapp zwanzig Jahre vor Antons Einweisung ins Heim, hatte Carl Albert Loosli mit seinem aufsehenerregenden Band «Anstaltsleben», dessen zornige Anklagen auf eigenen Erfahrungen beruhte, in der Schweiz eine Welle der Heim- und Fremdplatzierungskritik los-getreten. Zwar aus anderen Gründen als Anton in ein Heim verbracht, verarbeitete Loosli sein Trauma als Zögling der Jugendstrafanstalt Schloss Trachselwald fortan in Schmäh-schriften, Analysen, Pamphleten und Sachbüchern.
Loosli ist nicht Anton.
Aber die politisch-ideologische Basis der Fremdplatzierung, die soziostrukturellen Merkmale des Wegs zur Fremdplatzierung, ihre systemischen Prozesse und ihre individualpsycholo-gischen Folgen sind vergleichbar – 1924 bei Carl Albert, 1942 bei Anton.
Anton
1942, das damals fortschrittliche Schweizerische Jugendstrafrecht trat gerade in Kraft, wurde der siebzehnjährige Anton von der Jugendanwaltschaft ins Landerziehungsheim Albisbrunn in Hausen am Albis eingewiesen.
Das Ziel des neu eingeführten Jugendstrafrechts: Man wollte jugendliche Delinquenten nicht
länger wie Erwachsene bestrafen, sondern ihnen «Schutz und (…) Erziehung (…) gewährleisten».
Das Bezirksgericht Hinwil verurteilte den jungen Mann der «Vornahme unzüchtiger Handlungen mit einem Kinde» und wegen «versuchten Beischlafs mit einem Kinde».
Die Prognose des Gerichts war pessimistisch: Der Siebzehnjährige könne sich noch nicht in der Freiheit halten, hiess es. Er müsse «über die unharmonischen Pubertätsjahre hinaus noch in einem Heim geführt werden.» Anton war 1942 unter den ersten, die, gründend auf der neuen Rechtsbasis von einer Jugendanwaltschaft nach Albisbrunn eingewiesen wur-den. Bis 1950 sollten 59 weitere Delinquenten dazukommen.
Albisbrunn
Die Stiftung Albisbrunn wird 2024 hundertjährig. Sie ist bis heute sozialpädagogisch, psy-chotherapeutisch, schul- und berufsbildnerisch sowie arbeitsagogisch tätig. Gemäss Stif-tungsurkunde soll sie «Kindern, Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen (…), deren seeli-sche Entwicklung und Erziehung durch individuelle und soziale Faktoren erschwert ist, die nach dem jeweiligen Stande der Wissenschaft und pädagogischen Praxis mögliche Hilfe angedeihen lassen».
Die Familie Alfred Reinhart hatte das ehemalige Kurhaus der Kaltwasser-Heilanstalt Albisbrunn samt 34 Hektar Parkanlage in Hausen am Albis gestiftet. Beiläufig, laut Wikipedia: Im Herbst 1851 hatte Richard Wagner in der Kaltwasser-Heilanstalt zwei Monate verbracht. Er erhoffte sich Heilung von seinen Leiden (Gesichtsrose, Nesselfieber, chronische Darmverstimmungen). Dort entstand seine Konzeption zum Ring des Nibelungen.
Bis 1924 wurde das ehemalige Kurhaus vollständig saniert. Weitere Umbauten führten im Lauf der Zeit zur heutigen Infrastruktur für Wohn-, Schul- und Ausbildungszwecke.
Im Rahmen des Nationalfonds Forschungsprogramms 76 zum Thema «Fürsorge und Zwang» hat ein Team der Universität Zürich die Geschichte Albisbrunns zwischen 1924 und 1990 untersucht.
Wie Nives Haymoz inhaltlich vorgeht, will ich Ihnen zuerst erläutern (a). Sie sollen wissen, was sie recherchiert hat und worüber sie schreibt. Dann begründe ich, weshalb die Jury ihren Text als preiswürdig eingestuft hat (b).
a) Worum geht es in der ‹mikrologischen Fallrekonstruktion des strafrechtlich
fremdplatzierten› Jungen Anton im Jahr 1942
Nach einleitenden Hinweisen zum Kontext gerichtlich angeordneter Erziehungsmassnah-men der Jugendanwaltschaft gemäss dem neuen Jugendstrafrecht und Aussagen zur Fremdplatzierung jugendlicher Minderjähriger, fragt die Autorin, wie Anton aufwuchs und inwieweit sein Verhalten strafrechtlich relevant wurden. Sie möchte fünferlei ergründen:
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Welche Akteure beeinflussten wie und wann den Fallverlauf?
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Welche Akteure waren in die Entscheide einbezogen?
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Auf welchen Grundlagen urteilten sie?
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Wie wurden die Massnahmen vollzogen?
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Wie verlief die Entlassung aus dem Heim?
Nives Haymoz berichtet aufgrund der Durchsicht von Antons Dossier in den Archivbeständen Albisbrunns, aufgrund einer Kopie des psychiatrischen Gutachtens, das 1942 im Rahmen des Strafverfahrens gegen den 17järigen entstand und mit Blick auf die Korrespondenzen zwischen Albisbrunn, der Jugendanwaltschaft und Antons Mutter. Dazu kommt die Per-sonalakte aus dem Pestalozziheim, wo Anton einen grossen Teil seiner Kindheit verbracht hat.
Hier lediglich die Kurzversion – ich empfehle Ihnen die Lektüre des Texts, den wir auf der Website des Schulmuseums publizieren werden. Achten Sie dabei auf den Skandal, der damals keiner war: Der psychiatrische Gutachter…
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1925 wird Anton als mittlerer von drei Söhnen in einer kleinen Zürcher Landgemeinde geboren.
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Die erste psychiatrische Begutachtung erfolgt mit fünf Jahren, weil sich das Kind «auffällig und schwierig benommen» habe. Aus dem Gutachten: Antons Charakter sei «in psychopathischer Art hinterlistig, unaufrichtig» und sein Elternhaus sei «verwahrlost», sagt Dr. Lutz, der Gutachter.
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Trotz dessen Empfehlung («Versorgung in ein Kinderheim») bleibt Anton bei seinen Eltern.
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Schwache schulische Leistungen, passives Verhalten und Streit mit anderen Kindern führen zu einer zweiten kinderpsychiatrischen Abklärung, diesmal an der neu eröffneten psy-chiatrischen Poliklinik für Kinder und Jugendliche in Zürich. Wiederum führt Dr. Lutz die Abklärung durch. Ergebnis: Es habe sich ein «leicht schwachsinniges Bild entwickelt». Wegen fehlender Förderung in einem «geistig beschränkten» Elternhaus sei Anton «stumpfer und inaktiver» geworden. Dr. Lutz empfiehlt die Unterbringung Antons im Pestalozziheim Pfäffikon. Die Schulpflege hatte berichtet, Anton sei «schwachbegabt und schwererzieh-bar». Er verhalte sich zwar «ordentlich», sei aber «hinterlistig».
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Ab 1933 lebt der nun achtjährige Anton im Pestalozziheim Pfäffikon, bis zum Austritt als Fünfzehnjähriger, 1940. In den Akten findet Frau Haymoz keine Angaben zu Vergehen. Es scheint, als habe sich Anton verhaltensmässig im Griff.
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1940 zuerst Hilfsarbeiter in einer Spinnerei, dann in einer Schreinerei, begeht der Fünfzehnjährige 1941 seine ersten Delikte, darunter einen sexuellen Übergriff auf ein achtjähriges Mädchen. Er erhält eine auf drei Jahre bedingt ausgesprochene Geldstrafe.
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1941 gesteht Anton vor der Jugendanwaltschaft des Bezirks Hinwil, unzüchtige Handlungen an Kindern vorgenommen zu haben.
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Sieben Jahre später schreibt derselbe Dr. Lutz, der ihn zum dritten Mal untersucht: der nun Siebzehnjährige sei «mit Geistesschwäche erblich (vor)belastet» und «unterbegabt». Sein Verhalten werde von seinem «hinterlistigen Wesen» und seiner «heimtückischen Art mitbe-stimmt». Es seien «Handlungen eines verwahrlosten Debilen«, begründet der psychiatrische Gutachter seine pessimistische Prognose.
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Das Hinwiler Gericht stützt sich auf Lutz’ Gutachten. Anton wird am 26.11.1942 zum Massnahmenvollzug in Albisbrunn eingewiesen. Die Beobachtungsbögen der Gruppenleiter der Cartonnage- und der Handwerkergruppe führen altbekannte, oberflächliche Zuschreibungen fort: «Anton hat sich gut eingelebt, man merkt ihm an, dass er ein Anstaltskind ist.» Zwischenfälle, die hätten sanktioniert werden müssen, fehlen allerdings.
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1944 lehnt die Heimleitung Albisbrunns ein von Antons Mutter eingereichtes Gesuch um bedingte Entlassung nicht zuletzt wegen eines knappen Statements von.…Dr. Lutz…., allerdings ohne psychiatrisches Gutachten, ab.
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Ein zweites Entlassungsgesuch der Mutter, ebenfalls 1944, beurteilt die Heimleitung plötzlich positiv, wohl auch weil der verstorbene Bruder, was das Einkommen der Familie angehe, eine «schmerzliche Lücke» hinterlassen habe. Sollte nun der kranke Vater ebenfalls sterben, «wäre Anton doppelt notwendig». Anton wird 1944 als 19jähriger entlassen.
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Über Antons spätere Jahre ist Frau Haymoz zufolge wenig bekannt. 1949 scheint er in der Pneu- und Gummifabrik Pfäffikon gearbeitet zu haben. 1960 hat er offenbar seinen Wohnort gewechselt und geheiratet.
b) Was hat die Jury an diesem Text beeindruckt?
Der Aufsatz über Antons Weg vom Gericht ins Heim ist ein berührendes Lehrstück zum Thema Fremdplatzierung strafrechtlich verurteilter Jugendlicher. Loosli, das sei wiederum beiläufig erwähnt, wäre diese mühselige Geschichte bekannt vorgekommen, nicht nur aus eigener Heimerfahrung. Loosli hätte wutentbrannt zur Schreibmaschine gegriffen und einen rabiaten Angriff gegen alle Beteiligten geritten.
Frau Haymoz lässt die Quellen sprechen.
Die Jury hat dieser gut geschriebene und gut zu lesende Text betroffen gemacht. Die Autorin berichtet anhand dieser Kinder- und Jugendbiographie sachlich und aktenbezogen, nüchtern, aber empathisch, den Beteiligten zugewandt und interessiert an den Begründungen, von Antons Leben als Kind und Jugendlicher. Sie belegt eindrücklich, wie wolkig-stigmatisierend die Terminologie war (‘verwahrlost’, ‘schwachbegabt’, ‘hinterlistig’), wie sich die Zu-schreibungen in den psychiatrischen Gutachten wiederholten, akzentuierten und verselbständigten und welche zweifelhafte Rolle der Psychiater Jakob Lutz einnahm, dessen Äusserungen Antons Kindheit und seine Jugend so stark beeinflusst haben.
Frau Haymoz bezieht ihre Analyse überdies auf die Entwicklung des Jugendstrafrechts zum Jugendrecht in der Schweiz und verweist auf die Forschungslage zum Thema ‘Fremdplat-zierung’.
Dieser wohlbegründete Gang der Argumentation hat die Tintenfass-Jury überzeugt – auch deshalb, weil man sich beim Lesen immer wieder fragen muss: Was wäre gewesen, wenn?
Nives Haymoz hat diesen Text für Tintenfass 2024 eingereicht.
Die Jury hat den Aufsatz anonymisiert beurteilt.
Sie hat ihn zum Siegertext erkoren.
Die Jury, das sind Andrea Schweizer, Daniel Deplazes, Lucien Criblez, Angelo Romano und Hans-Ulrich Grunder, verleiht Nives Haymoz für ihren Text
Vom Gericht ins Heim
Mikrologische Fallrekonstruktion eines strafrechtlich fremdplatzierten Knaben, 1940er-Jahre
Tintenfass, den Preis für schweizerische Bildungsgeschichte 2024 – das heisst:
Die Urkunde, das Preisgeld und das Geschenk.
Herzliche Gratulation!